von Vaness Kuhfs, Mitglied Filmverband Sachsen, Fachjury Kurz- und Animationsfilm IFF SCHLiNGEL
Eine Woche lang füllte Chemnitz sich mit Film: In seiner 30. Jubiläumsedition präsentierte das Internationale Filmfestival SCHLiNGEL vom 27. September bis zum 4. Oktober 2025 an sechs Spielstätten 212 Filme aus 58 Ländern, davon 141 in Wettbewerbsreihen. Das Metropol, CineStar, Clubkino Siegmar, Weltecho, Opernhaus und Carlowitz Congresscenter wurden zu Orten der Begegnung zwischen Film und jungem Publikum. Im Kulturhauptstadtjahr 2025 lag der Fokus auf europäischen Produktionen – aus über 1.000 Einreichungen hatte die Programmkommission ausgewählt.

Juryarbeit: Sichten, diskutieren, entscheiden
Als Mitglied der Fachjury Kurz- und Animationsfilm hatte ich gemeinsam mit Ines Baumann, Jürgen Pinkert und Lina Walde gleich zwei Preisverleihungen und deren Filmsichtungen zur Aufgabe: Wir sichteten und bewerteten die Kurzfilme – Spielfilme und Animationen, national wie international – für die »Lange Nacht der kurzen Filme«. Zudem beurteilten wir die langen Animationsfilme und vergaben den Animationsfilmpreis bei der großen Preisverleihung zum Abschluss des Festivals.
Der Sichtungs- und Auswahlprozess begann bereits Wochen vor Festivalbeginn: In Online-Sitzungen sichteten wir Kurzfilme, diskutierten Bewertungskriterien und setzten Prioritäten. In Chemnitz folgte ein eigens für jede Jury abgestimmter Zeitplan mit täglichen Screenings, Austausch, Filmgesprächen und Abstimmungen. Immer wieder standen wir vor der Herausforderung und vor allem dem Privileg, Filme mit unterschiedlichen Themen, Budgets, Stilen, Geschichten und Absichten zu beurteilen – vom fantasievollen Animationsfilm bis zum aufwändig produzierten Kurzspielfilm.
Dafür trafen wir uns regelmäßig in den Räumen des Chemnitzer Hofes oder direkt in den Spielstätten. Die Resonanzen des jungen Publikums blieben uns dabei besonders in Erinnerung – ihre Fragen und Reaktionen ließen uns Filme noch einmal anders sehen. Die Betreuung durch das Festivalteam – von der Bereitstellung der Sichtungsmaterialien bis zur organisatorischen und auch oft emotionalen Unterstützung 🙂 ermöglichte uns, konzentriert zu arbeiten.

Am 1. Oktober 2025 verliehen wir unsere Preise für die Kurzfilme im Rahmen der »Langen Nacht der kurzen Filme« im Metropol. Über fünf Stunden hinweg liefen 27 Kurzfilme aus 16 Ländern.
Den Kurzfilmpreis Spielfilm National, gestiftet vom Filmverband Sachsen e.V., vergaben wir an »9 Tage im August« (Deutschland, Regie: Ella Knorz). Der Film beginnt mit einem Schwangerschaftstest unter Freundinnen – bei Lea fällt er positiv aus. Von diesem Moment an begleiten wir sie durch neun Tage, in denen sich jugendliche Unbeschwertheit mit der Härte eines Schwangerschaftsabbruchs verbindet. Die Kamera bleibt nah und lässt uns intime Momente von Freundschaft und Unterstützung miterleben. In den Kontrasten entfaltet der Film seine Kraft: ein Nachmittag am Wasser, gemeinsames Feiern – und dann die Kälte von Beratungsstellen, Wartezimmern und Formularen, die Selbstbestimmung erschweren. Aus kleinen Szenen entsteht ein Gesamtbild des Drucks, das sich Tag für Tag verdichtet. Am Ende bleibt nur Leas »Bis später« – ein Satz, der Abschied, Hoffnung und Neubeginn in sich trägt. Ella Knorz gelingt ein Werk, das persönliche Erfahrung in gesellschaftliche Dringlichkeit übersetzt – ohne zu moralisieren.
Der Kurzfilmpreis Spielfilm International ging an »Hass« (Rage) (Spanien, Regie: José Luis Lázaro). Ein sonniger Morgen in Spanien. Zwei junge Männer genießen einen Moment am Strand. Ein kurzer Ausflug, eine Panne: Sie sperren sich aus dem Auto aus. Als sie einen Familienvater auf dem Parkplatz um Hilfe bitten, scheint es eine alltägliche Situation. Doch was folgt, ist ein plötzlicher Akt der Gewalt. Brutal, grundlos – und realistisch. Mit feinfühliger Regie und ruhiger, eindringlicher Bildsprache führt uns der Film in ein Thema, das zu oft verdrängt wird: homophober Hass und homophobe Gewalt. Es ist die vermeintliche Normalität, die erschüttert – ein Familienvater als Täter, ein Parkplatz als Tatort. Keine dramatische Musik, keine Überzeichnung. Nur ein leiser Moment, der laut nachhallt.
»The Undying Pain of Existence« (Deutschland, Regie: Oscar Jacobson) gewann den Animationskurzfilmpreis National der AG Animationsfilm. Ein Aktmodell posiert mit statuenhafter Regungslosigkeit für eine Zeichenklasse – bis ein Mückenstich seine Selbstkontrolle auf die Probe stellt. Überwältigt vom Drang zu kratzen, gerät es in einen inneren Kampf zwischen dem Druck nach Perfektion und unkontrollierbaren, animalischen Instinkten. In unseren Debatten hoben wir hervor, wie die Kombination aus Ästhetik und rhythmischem Schnitt den Kampf zwischen Disziplin und körperlichem Drang spürbar macht. Das Medium Animation ermöglicht es, diese Emotionen auf eine Weise zu visualisieren, die über das reale Abbild hinausgeht – wir fühlen mit, erleben die quälende Zerrissenheit zwischen Erwartung und körperlicher Realität.

Den Animationskurzfilmpreis International vergaben wir an »Die Sicht« (Schweden, Regie: Alli Sadegiani). Der Film verbindet Real- und Animationsbilder, um Zuschreibungen von Identität und Wahrnehmung zu verhandeln – eine Figur agiert in realistischen Szenen, ihre Innenwelt wird in animierten Sequenzen sichtbar. Wir lobten insbesondere das Sounddesign, das Bildwechsel entlang psychischer Grenzen unterstützt und die verschiedenen Realitätsebenen miteinander verwebt.
Große Preisverleihung und Animationsfilmpreis
Am 4. Oktober 2025 fand ab 17:30 Uhr die große Preisverleihung im Carlowitz Congresscenter statt. Insgesamt wurden 20 Preise vergeben – zusammen mit den Kurzfilmpreisen vom 1. Oktober und dem Ehrenschlingel für Filmpublizist Klaus-Dieter Felsmann zur Festivaleröffnung waren es 25 Auszeichnungen. Rund 150 Festivalleiterinnen, Programmerinnen, Journalistinnen und Verleiherinnen aus aller Welt sowie eine besonders große Europäische Kinderjury mit 60 Kindern aus verschiedenen Ländern waren während der Festivalwoche aktiv in Chemnitz unterwegs.
Wir vergaben als Fachjury den Animationsfilmpreis. Während der Festivalwoche hatten wir die langen Animationsfilme gemeinsam im Kino gesehen und ausführlich besprochen. »Hola Frida« (Kanada, Frankreich, Regie: André Kadi, Karine Vézina) zeichneten wir am Ende als besten Film in der Kategorie Animationsfilm aus. Voller Farben und Magie erzählt der Film, wie ein krankes Mädchen durch Kunst Lebenskraft findet und sich eine Welt auf ihre eigene Weise erschafft. Er zeigt, wie Kreativität aus schmerzhaften Lebensereignissen entstehen kann – und dass Anderssein eine Quelle der Inspiration sein kann. Der Film erzählt von einer Zeit, in der Frauen noch seltener als heute als Künstler*innen eine Chance bekamen, und ist ein empowerndes Signal an Mädchen, ihren eigenen Weg zu gehen. Die Umsetzung in aufwendiger digitaler Zeichentrickanimation und die Anlehnung an die Gemälde der Künstlerin sind heute selten gewählter Stil und heben sich vom herkömmlichen Animationsspielfilm für Kinder ab.
Mit einer lobenden Erwähnung würdigten wir »Miss Moxy« (Niederlande, Belgien, Regie: Vincent Bal, Wip Vernooij). Aus der cleveren, aber hochnäsigen Hauskatze Moxy wird auf einer unfreiwilligen Reise durch Südeuropa eine wahre Freundin: Vertrauen begreift sie nicht mehr als Schwäche, sondern als Kompass zurück nach Hause. Der Animationsfilm erzählt diesen Wandel humorvoll und mit musikalischem Schwung.
Festival als kultureller Resonanzraum
Das Festivalprogramm umfasste neun Premieren, darunter »Meine Stiefmutter ist eine Hexe« (Kanada), »Ein Sommer in Sommerby« (Deutschland) und »Kinder der Silberstraße – Gemeinsam stark« (Dänemark). Das Begleitprogramm bot Workshops und Filmgespräche. Im Workshop »Make Some Noise – Foley/Sound FX« komponierten Kinder Geräusche – ein sinnlicher Zugang zu Klang als filmischem Element. In Q&As standen Regisseur*innen nach Vorführungen Rede und Antwort, Schulklassen besuchten Vormittagsvorstellungen mit Moderation.

Das SCHLiNGEL Industry Forum fungierte als Branchentreff mit Panels zu Stoffentwicklung, Koproduktion, Verwertung und Vertrieb. Über das Festival hinaus agiert SCHLiNGEL ganzjährig: mobile Kinovorführungen, Lizenzreisen nach Indien, Japan, Schweden, medienpädagogische Projekte. Der Animationsfilm »Der letzte Walsänger« (Deutschland, Tschechien, Kanada, Regie: Reza Memari) wurde mit dem Club of Festivals-Preis in der Kinderfilmsektion ausgezeichnet – ein Beispiel für die internationale Wirkung des Festivals. Viele Filme verhandelten Fragen, die junge Menschen bewegen: Identität, Zugehörigkeit, Ausgrenzung, Familie, Umwelt, Angst und Mut. Die Stärke lag darin, dass sie nicht moralisieren, sondern Räume lassen – sie erzählen aus Perspektiven, die unser Weltbild verschieben, ohne Lösungen vorzugeben.
In einer Medienlandschaft, in der Streamingplattformen und Algorithmen zunehmend festlegen, was sichtbar wird, brauchen wir Orte, die Filme bewusst auswählen, einordnen und in Beziehung setzen. Kinder- und Jugendfilme sind kein Begleitprogramm, sondern ein eigenständiges Feld, in dem sich gesellschaftliche Fragen, ästhetische Experimente und vielfältige Lebensrealitäten entfalten. Festivals wie der SCHLiNGEL schaffen Räume, in denen Menschen über Film ins Gespräch kommen, in denen Bildung, Kunst und Gemeinschaft zusammengehören. Mein Dank gilt dem Team hinter dem Festival, das diesen Raum mit Sorgfalt gestaltet, den Kolleg*innen der Jury für die offenen Diskussionen und dem Filmverband Sachsen, der mit seiner Unterstützung zeigt, dass regionale Filmkultur und internationale Vernetzung sich gegenseitig stärken.
Diese Woche in Chemnitz war eine intensive Erfahrung – geprägt von filmischen Entdeckungen, von Gesprächen, die nachwirken, und von der Erkenntnis, dass Festivals wie dieses dazu beitragen, Film als gemeinsame Sprache lebendig zu halten.