Interview mit Gunnar Dedio, Geschäftsführer der LOOKSfilm & PROGRESS Film GmbH

LOOKSfilm wurde vor 25 Jahren gegründet. Von Anfang an hat sie auf internationale Kunden, Koproduktionen und Sender gesetzt. Aus diesem Grund war es für Geschäftsführer Gunnar Dedio und sein Team ein ganz natürlicher Schritt, ab dem Moment, ab dem es Streamingplattformen gab, mit diesen auch zusammenzuarbeiten. Anfang Januar trafen wir unser Verbandsmitglied Gunnar Dedio am Hauptsitz der LOOKSfilm in Leipzig, um mit ihm über seine Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit Netflix zu sprechen.

Seit wann arbeiten Sie mit Netflix zusammen und wie kam diese Zusammenarbeit zustande?

Unsere erste Produktion, die auf Netflix zu sehen war, war die Serie „14 – Tagebücher des Ersten Weltkriegs“. Sie erschien 2014 auf Netflix zum 100. Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs und war die erste deutsche Serie, die dort gezeigt wurde. Das Ganze begann als eine Akquise von Netflix. Sie haben diese Serie lizenziert, darüber haben wir uns sehr gefreut und so ging alles los.

Wie hat Netflix Ihre Doku-Serie entdeckt? Sind sie einfach auf Sie zugekommen oder haben Sie mit Netflix Kontakt aufgenommen?

LOOKSfilm ist eine Produktionsfirma und hat eine Schwesterfirma, die LOOKS International GmbH. Dabei handelt es sich um eine Distributionsfirma, die das macht, was eine Distributionsfirma macht. Sie geht auf Messen und Märkte, spricht Kunden an und sagt: „Hallo, schaut mal, das haben wir im Angebot, wollt ihr das nicht lizenzieren, wollt ihr da nicht einsteigen, wollt ihr das nicht kofinanzieren?“ Selbstverständlich sind wir auch bei dieser Serie so vorgegangen. Es war eine sehr aufwendige achtteilige Serie für – wenn ich mich richtig erinnere – acht Millionen Euro, mit der wir natürlich auf den Märkten präsent waren. In diesem Zusammenhang ist Netflix auf die Serie aufmerksam geworden und hat sie schließlich lizenziert.

Inzwischen ist das sechs Jahre her. Damals war Netflix zwar schon groß und spannend, aber noch längst nicht an dem Punkt, wo es sich heute befindet. Aber so ging es los.

LOOKSfilm hat diesen Auswertungsweg also ganz gezielt für sich gewählt?

Wir haben ja vor Netflix auch schon regelmäßig für Discovery und andere globale Sender oder Senderketten gearbeitet, den linearen Vorläufern der Streamingplattformen, die ebenfalls global operieren. 2014 war uns schon klar, dass jetzt das Plattformzeitalter das Zeitalter des Erdöls ablöst und Streamingdienste auch in Zukunft eine große Rolle spielen werden.

Bedeutet das, dass Sie damals direkt auf Netflix zugegangen sind?

Natürlich. So läuft ja das Geschäft. Dafür gibt es Messen wie zum Beispiel die MIPTV in Cannes, wo sich Produzenten und Distributoren mit denjenigen treffen, die Filme brauchen – mit Sendern und Plattformen. Sobald es dort einen neuen Player gibt, ist es klar, dass wir – wie andere auch – auf diesen zugehen und versuchen rauszufinden, was er möchte, wonach er sucht, ob es eine Schnittmenge gibt zu dem, was wir machen. Denn wir erzählen Geschichten auf eine ganz bestimmte Art und Weise. Das passt nicht zu jedem Sender und jeder Plattform.

Bei Netflix war von Anfang an klar, da gibt es eine Schnittmenge. Mit Netflix haben wir einen Partner gefunden, der ganz klar bekennt: „Wir lieben Serie, wir lieben auch dokumentarische Serie, ihr könnt uns etwas erzählen.“ Das kam uns sehr entgegen, denn wir haben schon immer serielle dokumentarische Geschichten erzählt, Stoffe, die sich schwer in ein oder zwei Stunden abhandeln lassen, weil sie einfach ein bisschen komplexer sind; weil sie so sind wie das Leben.

In der bisherigen Weltordnung war es oft so, dass das dokumentarische Genre von manchen als die kleine hässliche Schwester des glamourösen Fiktionalen betrachtet wurde. Wir haben das nie so gesehen. Wir lieben Dokus.

Vielleicht erachtet man es nicht als so unterhaltend, dass man dafür ins Kino gehen würde?

Es gab immer einen Attraktivitäts-Gap. Netflix hatte da eine andere Herangehensweise und sagte von vornherein: „Wow! Dokumentarisch? Serien? Global erzählt? Ja, wollen wir haben!“ Ich finde, dass sich das in der Branche bemerkbar gemacht hat. Der Stellenwert des Dokumentarischen ist durch das Engagement einer Plattform wie Netflix und den globalen Erfolg von dokumentarisch erzählten Serien in den letzten Jahren gestiegen.

Wie viele Produktionen haben Sie bisher für Netflix produziert?

Also, von denen, die bereits ihren Release auf Netflix hatten, waren das: „14 – Tagebücher des Ersten Weltkriegs“, „Geheimes Kuba“, „Age of Tanks“, eine vierteilige Serie über die Psychologie hinter der Erfindung des Panzers, „Bobby Kennedy for President“ über Robert Kennedy und den geplatzten Traum eines Landes sowie „Mein Freund Rockefeller“. Derzeit arbeiten wir an neuen Stoffen.

Gunnar Dedio spricht im Interview über seine Erfahrungen bezüglich der Produktion für Streamingdienste.
Gunnar Dedio | © Susanne Seifert

Waren das dann richtige Auftragsproduktionen für Netflix?

„Bobby Kennedy“ ist eine Auftragsproduktion, auch wenn das Wording ein bisschen ein anderes ist. „Age of Tanks“ ist eine Produktion, die zunächst zusammen mit ZDFinfo und dem französischen Sender Planète entwickelt wurde und wo Netflix dann zu einem späteren Zeitpunkt eingestiegen ist.

In welcher Rolle ist Netflix bei dieser Produktion mit eingestiegen?

Netflix hat sich über eine Lizenz an den Produktionskosten beteiligt, was die Produktion auch beeinflusst hat. Generell gibt es entweder das Modell einer Auftragsproduktion/eines Buy-outs und dann gibt es noch alle möglichen Formen der Zusammenarbeit, bei denen es oft recht schwer ist, zu entscheiden, ob man das jetzt Koproduktion nennt oder Lizenzkauf. Die Grenzen sind da fließend. Nur, wenn der Film erst nach seiner Fertigstellung angekauft wird, wie das bei „14 – Tagebücher des Ersten Weltkriegs“ der Fall war, dann ist das ein klarer Lizenzkauf.

Wenn neben Netflix noch weitere Partner beteiligt sind, dann gibt es Zeit- und territoriale Fenster, die so zurechtgeschüttelt werden, dass alle Beteiligten möglichst viel von dem bekommen, was sie sich wünschen.

Man stellt sich Netflix ja immer als übermächtig vor. Wie geht man miteinander um? Wie verhandelt man miteinander? Sagen die: „Diese Summe bekommen Sie, so und so läuft das bei uns und alle Rechte sind weg“?

Nein, das sind ja auch Menschen, nette Menschen. Natürlich hat Netflix eine bestimmte Philosophie, aber in meinem Erleben gibt es schnelle Entscheidungen und faire Verhandlungen. Der Stil der Verhandlung hängt wie immer sehr von der jeweiligen Person ab.

Es ist also nicht so, dass man feste Verträge und ganz wenig Spielraum hat?

Es ist wie mit jedem anderen Partner. Ich habe auch bei einem Vertrag mit dem MDR oder ZDF bestimmte Dinge, die verhandelbar sind, aber es gibt genauso eine Menge Paragrafen, bei denen es keinen Sinn macht, Verhandlungen anzufangen. Da unterscheidet sich Netflix nicht von MDR, ZDF, Discovery oder Al Jazeera.

Wenn Sie sich einen Vertrag mit einem deutschen Sender ganz genau durchlesen, stehen da eine Menge erstaunlicher Sachen drin. In 25 Jahren LOOKSfilm kam jedoch noch nie jemand und hat mit so einem schrägen Paragrafen gewedelt.

Bei einem neuen Player wie Netflix stehen in den Verträgen natürlich auch Dinge, die zunächst ungewohnt sind. Da heißt es dann erst einmal beobachten, wie die Vertragsinhalte tatsächlich gelebt werden. Bisher habe ich da keine schlechten Erfahrungen gemacht, weder im Bereich der Öffentlich-Rechtlichen noch bei Netflix oder anderen internationalen Partnern.

Wie würden Sie die Zusammenarbeit mit Netflix beschreiben?

Also, die Produktionsseite von Netflix ist ja eine relativ junge, moderne Organisation im Vergleich zu beispielsweise öffentlich-rechtlichen Sendern, deren Strukturen sich über Jahrzehnte entwickelt haben. Entsprechend ist Netflix in seiner Arbeitsweise sehr prozessorientiert, digital, hocheffizient strukturiert und normiert, bis hin zu sehr detaillierten Absprachen, zum Beispiel, welche Technik eingesetzt wird. Das ist ein Unterschied im Vergleich zur Arbeit mit einem öffentlich-rechtlichen Sender, wo es immer sehr individuelle Vorgehensweisen und Absprachen zwischen einem Redakteur und dem Autoren beziehungsweise der Produktionsfirma gibt, die sich von Projekt zu Projekt unterscheiden und einen stärker inhaltlichen Fokus haben.

Das mag daran liegen, dass Netflix sich die große Aufgabe gestellt hat, in sehr kurzer Zeit sehr viel Content zu produzieren, der einerseits weltweit, andererseits auch regional für die Menschen interessant ist und ein sehr breites Publikumsspektrum anspricht. So etwas erreicht man nur mit sehr effizienten Prozessen und Strukturen, was ich beeindruckend finde. Dies geht meiner Erfahrung nach mit einem sehr großen Respekt gegenüber dem sogenannten ‚Talent‘ einher und einer Haltung, die deutlich macht: „Ohne euch sind wir nichts.“ Wir erleben hier einen beeindruckend respektvollen Umgang.

Wer sind Ihre Ansprechpartner*innen bei Netflix?

Also wir haben verschiedene Ansprechpartner für unterschiedliche Produktionen in Los Angeles, Amsterdam, London und Berlin. Mit ihnen treffen wir uns vor Ort, hier in Leipzig oder sehr viel in regelmäßigen Skype-Konferenzen. Zudem hat LOOKSfilm auch ein Büro in Berlin, wo wir uns ebenfalls treffen.

Wir haben uns gefragt, ob der Aufbau eines Büros in Berlin, der ja aktuell in aller Munde ist, ein Signal seitens Netflix für die Bedeutung des Filmstandortes Deutschland sein könnte.

Was anhand der Programme, die Netflix veröffentlicht, deutlich wird, ist, dass sie das Regionale mit dem Globalen verbinden. Ich finde es einen höchst spannenden Schachzug, Stoffe auszuwählen, die für ein bestimmtes Land oder für eine bestimmte Region von allerhöchstem Interesse sind, aber gleichzeitig einen globalen Appeal haben. Dieser Schritt, zu sagen, „Wir gehen in die verschiedenen Regionen“ ist einer, der wesentlich zum Erfolg von Netflix beiträgt.

Inwieweit bestimmt Netflix über die Zusammensetzung des Produktionsteams?

Genauso wie mit allen anderen Partnern auch gibt es immer eine Absprache bezüglich des Key-Creative-Teams. Je nach Individualität des Partners spricht man mal mehr und mal weniger ab. Der eine interessiert sich nur für die Autoren und vertraut uns bei der Wahl des Teams, der andere interessiert sich auch für den Kameramann und für die konkrete Besetzung des gesamten Teams. Das ist immer unterschiedlich. Netflix legt großen Wert auf die Abstimmung des gesamten Teams.

Netflix hält sich immer sehr bedeckt, was Zahlen anbelangt. Bekommen Sie als Produzent dann doch irgendwie mal eine zahlenmäßige Rückmeldung zur Performance Ihrer eigenen Produktionen?

Nein. Gar nichts.

Sie können den eigenen Erfolg demzufolge nicht wirklich einschätzen?

Ich versuche, ihn aus dem Lächeln meiner Ansprechpartner zu erlesen.

Gunnar Dedio im Filmarchiv der Progress Film GmbH.
Gunnar Dedio | © Ania Szczepanska

Sind Sie mit dem Aufbau und dem Betreiben von progress.film selber zum Streaminganbieter geworden? Was bietet diese Plattform und welche Visionen haben Sie für das Angebot?

PROGRESS versteht sich als eine Plattform, die das audiovisuelle Gedächtnis des 20. Jahrhunderts anderen Filmemachern und Interessenten für Recherche und Lizenzierung zugänglich macht. Damit ist PROGRESS ganz klar ein Angebot, das am Plattformzeitalter teilnimmt und es uns mittels der Technologie, die wir jetzt haben, ermöglicht, eine Lücke zu schließen. Wir freuen uns sehr, dass wir von der DEFA-Stiftung die Möglichkeit bekommen haben, das Filmerbe der DDR weiter zu digitalisieren. Wir scannen Filme, stellen sie auf die Plattform, versehen das Ganze mithilfe von künstlicher und menschlicher Intelligenz mit Metadaten ­– zum Beispiel mit Transkriptionen dessen, was gesagt wird, und mit Beschreibungen, was im Bild zu sehen ist –, übersetzen es ins Englische (weitere Sprachen sollen folgen) und haben einen sehr modernen Suchalgorithmus, der es dem Kunden ermöglicht, genau die Szene im Archivmaterial zu finden, die er für seinen Film benötigt. Diese kann er sich auf seinen Schnittplatz herunterzuladen, damit spielen und wenn er meint: „Okay, das ist es jetzt“ dann diesen Ausschnitt für seine Zwecke lizenzieren.

In diesem Prozess der Digitalisierung haben wir die ehemaligen Kooperationspartner und Co-Produzenten der DEFA angesprochen, weil sie ja teilweise noch Rechte an dem Archivmaterial haben, wodurch sie von dem Projekt erfuhren und gleich meinten: „Mensch, das ist ja toll, können wir nicht auch mit auf die Plattform?“

Daraus leiten wir die Vision ab, innerhalb der nächsten drei Jahre auf www.progress.film nicht nur den kompletten Bestand der DEFA zu digitalisiert und ihn auf Deutsch und auf Englisch zu verschlagworten, sondern darüber hinaus auch den Kreis der Archivgeber weiterzuziehen, sodass wir einen noch größeren Teil des audiovisuellen Erbes des 20. Jahrhunderts auf der Plattform anbieten.

Bedeutet das, dass jeder auf das Archivmaterial zugreifen kann, oder richtet sich das Angebot wirklich an Filmemacher?

In erster Linie ist es ein B2B-Angebot für Filmemacher, Produzenten, Sender und Museen, aber darüber hinaus sind auch andere Geschichtenerzähler, Wissenschaftler und Interessenten herzlich willkommen.

In welchem Verhältnis steht LOOKSfilm zu PROGRESS als Verleih?

PROGRESS ist ja am 1. August 1950 als Filmverleih gegründet worden, fungierte die meiste Zeit ihres Lebens als Verleih für DEFA-Filme und importierte Filme für die etwa 800 Kinos in der DDR. Aufgrund der Geschichte und der veränderten äußeren Rahmenbedingungen beschränkt sich ihre wesentliche Aktivität heute auf die Ausschnittplattform www.progress.film als einer anderen Form der Distribution. Wir planen jedoch, die Verleihaktivitäten wieder aufzunehmen, können aber noch nicht sagen, wann wir das tun werden.

Befindet sich PROGRESS jetzt unter dem Dach von LOOKSfilm oder handelt es sich um ein eigenständiges Unternehmen?

Wir trennen das. Es gibt die LOOKSfilm, eine Produktions- und Distributionsfirma, die für den weltweiten Markt produziert und es gibt ein anderes Unternehmen, das ist die PROGRESS Film GmbH, die sich der Erschließung des audiovisuellen Erbes verschrieben hat auf einer von Historikern und Archivaren kuratierten Plattform, wo man in einer Qualität Archivmaterial suchen und finden kann, wie man sie so auf anderen Plattformen nicht findet. Das sind also zwei getrennte Firmen und zwei verschiedene Aktivitäten. Zufällig darf ich bei beiden mitarbeiten.

Zufällig?

Das Ansinnen von LOOKSfilm war von Anfang an, sich um historische Stoffe zu kümmern, weshalb wir ein riesiges weltweites Netzwerk mit Archiven aufgebaut haben. Mit der PROGRESS haben wir schon immer zusammengearbeitet, weil wir deren DEFA-Material schätzten. Die Übernahme von PROGRESS war somit ein Prozess, der sich organisch aus unserer Arbeit und Liebe zum Archiv ergeben hat. Daraus haben sich zwei Firmen entwickelt.

Wir danken herzlich für das Interview!

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