Fatih Akin im Interview

Mit „Tschick” hat sich der Kultregisseur Fatih Akin nicht nur an die Verfilmung eines Jugendromans des verstorbenen Wolfgang Herrndorf gewagt – einem Bestseller. Darüber hinaus hat er mit dem Roadmovie gleich noch den Osten Deutschlands für sich entdeckt. „Tschick” erzählt die Coming-of-Age Geschichte der beiden Teenager Maik (Tristan Göbel) und Tschick (Anand Batbileg), zwei Außenseiter, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Der eine aus „gutem“, aber zerrüttetem Elternhaus, der andere aus ungewissen Verhältnissen. Verbindungen zur russischen Mafia sind nicht ausgeschlossen. Ein Sommer bringt die beiden zusammen, in dem sie nicht nur erwachsen, sondern Freunde werden. In Berlin trafen wir den Regisseur und sprachen mit ihm über seinen neuen Film und wieso dieser womöglich eine neue Richtung in seiner Karriere andeutet.

Du hast dich lange um die Filmrechte an „Tschick” bemüht. Was war es, das dich an dem Roman überzeugt hat?

Das Thema „Coming-of-age“, das Heranwachsen. Das ist so ein klassisches Filmgenre, gerade aus den 80ern, das mir immer gefallen hat, mit Filmen wie „Stand by me” von Rob Reiner oder „The Breakfast Club” von John Hughes. Diese Filme waren immer irgendwie meine Freunde, weißt du. Und als ich den Roman zum ersten Mal gelesen habe, da habe ich gleich dieses Potential rausgelesen, dass es ein Film in genau dieser Tradition sein kann. Ich glaube, der letzte deutsche Film der mir zu dem Thema gefallen hat, war „Crazy” von Hans-Christian Schmid. „Crazy” ist – hoffe ich mal – irgendwie artverwandt mit „Tschick”. Auch eine Literaturverfilmung.

Es war recht kurzfristig, dass es dann letztlich geklappt hat und du bei „Tschick” Regie führen konntest, da zunächst David Wnendt angedacht war. Wie weit kann man da die Richtung noch lenken?

 Es gab noch keine Richtung. Alle haben auf den Regisseur gewartet, weil er beschäftigt war mit einem anderen Film. Das war der Grund, weswegen er „Tschick” nicht machen konnte. Dann kam ich. Nichts war besetzt. Ich habe das Buch zusammen mit Lars Hubrich und Hark Bohm umgeschrieben und die Kamera mit reingebracht. Ich hab nicht bei null angefangen, aber ich habe auch nicht bei 50 angefangen, also ich würde mal sagen, ich habe vielleicht bei 14 oder so angefangen.

Spätestens beim Soundtrack sieht man deine Handschrift – mit viel Rock und auch Hip Hop. Beyoncé fehlt hingegen komplett. War das für dich wichtig?

Es gab zunächst produktionstechnische, aber später auch andere Gründe: Der Track von Beyoncé, „Survivor”, um den es da geht, ist von 2001. Das ist doch jetzt nicht unser Ernst, eine 15 Jahre alte Nummer so als Teenie-Party-Track von heute zu verbraten. Da hätte der Film zu einer anderen Zeit spielen müssen. Eigentlich waren die White Stripes der einzige Hinweis, den Herrndorf gibt, welche Musik Maik hört. Okay, wenn er das hört, dann ist er Grunger. Also hört er heutzutage nicht Nirvana oder Foo Fighters, sondern der müsste dann so etwas hören wie Courtney Barnett oder Wolf Alice. Rock ist traditionell auch immer Außenseitermusik. Also die, die in Sport nicht so gut sind, machen Musik und so habe ich Maik immer ein bisschen gesehen. Deswegen ist die Stabhochsprung- Szene raus.

Nach kurzer Zeit wurde schon mit dem Dreh begonnen. Entwickelt sich so ein Dreh dann auch selbst schnell zu einem Roadtrip?

Wir sind quer durch den Osten gefahren und irgendwie hatte ich das Gefühl, jede Woche in einer anderen Stadt, in einem anderen Hotelzimmer zu sein. Es war halt eine Kamikaze-Nummer. Ich habe den Film gestaltet, während ich ihn gedreht habe. Weißt du, normalerweise bereitest du alles vor und drehst es dann so ab. So mache ich es in der Regel, Hitchcockmäßig: Der Film ist schon im Kopf. Und hier war das nicht so. Dokumentarfilm kommt dem recht nahe.

Haben die Schauspieler dann viel improvisiert?

Nein, es wurde überhaupt nicht improvisiert. Die haben alle ihre Texte gelernt und ich fand das super mit den Teenagern. Die hatten nie Textprobleme und waren nie zu spät. Und sie waren nie krank. Da sind alle krank geworden während der Dreharbeiten und die einzigen drei, die nicht krank geworden sind, waren wirklich Tristan, Anand und Nicole. Wenn du Setfotos siehst: die sind nackt im Wasser und das ganze Team – mit North Face und nochmal North Face, Wollmützen und Handschuhe und Schals. Wirklich, als würde man in der Arktis drehen, so sieht das Team aus und holt sich Herpes und Schnupfen und Husten und hast-du-nicht-gesehen – und die Kids waren die Superhelden. Denen ist nichts passiert.

Ihr habt auch in Sachsen, im Umland von Leipzig gedreht.

Halle, Magdeburg, Merseburg, Quedlinburg, in der Nähe von Leipzig. Alles was im Film ist, ist im Osten gedreht. Außer vielleicht ein bisschen in Berlin – Hellersdorf, Marzahn. Aber sonst ist alles im Osten gedreht. Es war gut produziert. Es war anstrengend. Ich hatte 1/3 der Drehorte nicht, als ich angefangen habe zu drehen. Ich musste nach Drehschluss immer noch Drehorte abnehmen. Das war für mich der Film, mit dem ich Ostdeutschland kennengelernt habe. In jeder Hinsicht. Ich bin halt Wessi – immer gewesen. Ich komm aus Hamburg-Altona und hatte wahrscheinlich dieselben dämlichen Vorurteile gegenüber dem Osten, noch aus den 90ern heraus. Dann besteht mein ganzes Team aus Ostdeutschen und das war das beste Team. Die waren so geil: „Geht nicht gibt’s nicht.“ Die hatten immer eine Lösung, haben immer improvisiert und die hatten immer gute Laune.

Aber dein nächster Film wird trotzdem wieder in Hamburg spielen, oder in Sachsen?

Nein, ich drehe jetzt wieder in Hamburg. Das hat nichts mit dem Osten zu tun. Ich hab die Nase voll vom „Unterwegsdrehen”. „The Cut” wurde schon auf der ganzen Welt gedreht. Und bei „Tschick” auch komplett wieder „on the run“. Ich würde super gerne mal wieder einen Film machen, bei dem ich wirklich in meinem eigenen Haus wohne während ich drehe. Das hatte ich zuletzt bei „Soul Kitchen” 2008. Das ist acht Jahre her. Das muss ja nicht so sein. Ich habe zwei Kinder, Frau und einen Hund. Ich hab auch noch ein soziales Leben, da würde ich auch dran teilnehmen wollen. Ich denke, ich kann das Filmemachen auf jeden Fall mit meinem sozialen Leben teilen aber ich suche mir die Stoffe in nächster Zeit so – mindestens für drei Filme – dass ich die in Hamburg drehe.

„The Cut” war ein Herzensprojekt, in das viele Jahre Vorbereitung und viel Geld geflossen sind. „Tschick” ist ein wenig kommerzieller angelegt und kann in einer kürzeren Zeit abgeschlossen werden. Möchtest du in Zukunft diese beiden Arbeitsweisen verfolgen?

„Tschick” war auch ein Herzensprojekt. Also, sowas wie „The Cut” werde ich nicht noch einmal machen. Ich werde nie wieder an einem Film fünf Jahre am Stück arbeiten. Da geht mir einfach zu viel Zeit verloren. Filme wie „Gegen die Wand”, die haben anderthalb Jahre vielleicht gebraucht, mit der Vorbereitung und allem zusammen. „Auf der anderen Seite” ging super schnell. Also, das geht auch so. „Soul Kitchen” hat lange gebraucht. Die Drehbucharbeit dazu hat ewig gedauert. Und bei „The Cut” hat die Vorbereitung, die Finanzierung, so lange gedauert. Ich habe „Tschick” nicht gemacht weil es ein kommerziellerer Stoff ist. Ich habe „Tschick” gemacht, weil ich den Stoff gerne verfilmen wollte. Ich hab nicht mehr so ein Tempo drauf, dass ich alle zwei Jahre einen Stoff schreiben kann. Das ist vorbei. Ich brauche für meine eigenen Stoffe vielleicht vier bis fünf Jahre, bis die gut sind. Ich will aber nicht alle vier bis fünf Jahre einen Film drehen. Deswegen werde ich, glaube ich, in der nächsten Phase meiner Karriere – keine Ahnung wie lange sie dauert – so Sachen abwechseln. Ich werde einen Film versuchen zu machen, der auf Literatur basiert oder bei dem das Drehbuch nicht von mir ist, ein Auftragsfilm eben, und einen für mich. Einen fürs System, der vielleicht auch ein bisschen kommerzieller ist, und einen für mich. So wird das jetzt sein. Nur Filme zu machen wie „The Cut”, „Auf der anderen Seite” und „Gegen die Wand”, damit werde ich nicht überleben können. Dazu hat sich auch der Markt zu sehr verändert.

„Tschick” ist dann eine Mischung aus beiden Formen?

„Tschick” ist so ein Film, wo ich hoffe, dass er einen breiten Markt abdeckt, aber gleichzeitig halt ein Film, für den ich mich nicht schäme. Das ist das Mindeste. Ich darf mich für einen Film nicht schämen. Das tue ich nicht. Ganz im Gegenteil, ich bin ganz stolz auf „Tschick”.

Die Beziehung mit der Türkei – Kultur, Tradition, Religion – war schon häufig Thema in deinen Filmen. Wie erlebst du die aktuellen politischen Entwicklungen in der Türkei? Möchtest du als Filmemacher darauf antworten?

Ich glaube, ich hab mich daran abgearbeitet. Ich glaube, ich habe mich mit der ganzen Herkunft in mir – meiner ethnischen Herkunft oder der Herkunft meiner Eltern – abgearbeitet. Was ja wirklich etwa zehn Jahre gedauert hat in meiner Arbeit. Damit bin ich durch und vor allem bin ich damit so durch, dass es mich auch nicht mehr interessiert. Das habe ich für mich zu Ende erzählt. In der Hinsicht ist „Tschick” für mich eine totale Befreiung gewesen. Wie ein Neuanfang, und das tut meinem Selbstwertgefühl voll gut, weil ich mir selber bewiesen habe: Hey, ich kann auch einen Film machen, der mit diesen ganzen Sachen nichts zu tun hat – der aber trotzdem wahrhaftig ist. „Tschick” ist wahrhaftig. So wahrhaftig wie „Gegen die Wand” wahrhaftig ist. Das ist nicht mein Roman – ich habe das von Herrndorf übernommen. Der Drang, das zu machen, der ist genauso wahrhaftig, und das ist für mich so ein „Befreiungsding“. Es sind jetzt einfach andere Themen, die ich abarbeite.

Und was steht als nächstes Projekt an?

„Aus dem Nichts” mit Diane Krüger. Der spielt in Hamburg und wird ein Thriller. Das wird wieder mehr ein Autorenfilm, wie „Gegen die Wand” und „Auf der anderen Seite”. Und dann mache  ich „Der Goldene Handschuh” von Heinz Strunk – eine Literaturverfilmung – ein bisschen härter als „Tschick”, aber ich hoffe, genauso ambitioniert.

Literaturverfilmung ist also auch ein neues Ding von dir? Gibt es viele Stoffe, die deiner Meinung nach unbedingt auf die Leinwand gehören?

Total. Sowohl das als auch: Ich stelle mich dem Markt zur Verfügung. Mehr als ich das vorher getan habe. Ich habe mich vorher – in den letzten zehn, 20 Jahren meiner Karriere – eigentlich abgeschottet. Ich wollte nichts mit Außen zu tun haben und wollte nur meine eigenen Sachen machen. Und jetzt habe ich „Tschick” gemacht und ich habe „Marius Müller-Westerhagen Unplugged” gemacht, was ja auch ein Auftrag für MTV war. Ich kann auch nur Regisseur sein. Ich muss nicht immer Filmemacher sein. Das ist ein Unterschied. Filmemacher und Regie sind zwei verschiedene Dinge. Zwei verschiedene Sportarten. Das eine ist Hundert-Meter-Lauf und das andere ist Hundertzehn-Meter-Lauf mit Hindernissen.

Vielen Dank für deine Zeit. Ich bin gespannt auf alle weiteren Filme.

Ich arbeite dran.

Das Interview wurde geführt von Sabine Kues und ist im AUSLÖSER 3/ 2016 erschienen.