Bei der vergangenen Ausgabe von DOK Leipzig gewann Daniel Abmas »Im Prinzip Familie« den film.land.sachsen-Preis für Filmkultur im ländlichen Raum und weitere Auszeichnungen. Doreen Kaltenecker hat mit dem Regisseur über seinen neuen Film gesprochen.
Wie ist die Idee zu dem Film entstanden?
Ganz grundlegend rühren mein Interesse und Respekt für die sozialen Berufe, für Lehrer*innen und Erzieher*innen von meiner eigenen Ausbildung zum Grundschullehrer her. Ich war 23, wurde mir der enormen Verantwortung bewusst und habe mir selbst den Beruf nicht zugetraut.
Konkret war es mein Film »Nach Wriezen«, der 2012 auch auf dem DOK Leipzig lief. Dafür habe ich strafentlassene Jugendliche drei Jahre lang bei ihrer Resozialisierung begleitet. Viele davon haben Kinder bekommen, von denen einige sich in der Kinder- und Jugendhilfe befinden. Das hat mich betroffen gemacht, und dazu gebracht, dem nachzugehen.
Ich vertiefte mich in das Thema und ein Mitarbeiter des Jugendamts bot mir an, einige Einrichtungen mit ihm zusammen zu besuchen, unter denen sich auch das Haus am See befand. Der Ort hatte aufgrund seiner abgeschiedenen Lage sofort etwas Magisches. Dieser Standort ermöglicht ein reizreduziertes Wohnen – Handyempfang gibt es da nicht. Dort können insgesamt 16 Kinder in vier Wohngruppen leben.
Was möchtest Du dem Publikum mit diesem Film mitteilen?
Das Erziehungswesen steht auf Platz Zwei der Berufe mit der größten Personalnot. Wir wollen mit unserem Film die Aufmerksamkeit auf dieses Feld lenken. Wir wollen Mut machen, in den Beruf einzusteigen, indem wir zeigen, wie wichtig, relevant und schön er ist. Auch wenn er natürlich herausfordernd ist und es viele Schwierigkeiten im System gibt. Jetzt, nach diesem Film, kann ich mir vorstellen, vielleicht mal in diesem Beruf zu arbeiten.
Wie wurde das Filmprojekt im Allgemeinen und im Speziellen von den drei Gruppen – Kinder, Eltern und Erzieher*innen – aufgenommen?
Die Kinder fanden es sofort super. Sie haben mich sofort vereinnahmt, ich habe Gutenachtgeschichten vorgelesen und mit ihnen gespielt. So wurde ich in kürzester Zeit Teil dieser Familie. Mit den Erzieher*innen habe ich viele Abende verbracht und so haben wir uns in langen Gesprächen kennengelernt.
Die Eltern mit dem Projekt vertraut zu machen, war spannend, da sie nicht so oft vor Ort sind. Wenn ich wusste, an welchem Wochenende ein Elternteil zu Besuch kam, habe ich meinen Besuch dann geplant. So habe ich sie wie eine Art Praktikant vor Ort kennengelernt und habe mein Filmprojekt vorgestellt. Über drei, vier Jahre habe ich die Eltern immer wieder getroffen, so dass sie sich an mich und die Kamera gewöhnen konnten.
Und es gibt noch eine vierte Gruppe: das Jugendamt, die Vormunde und die Menschen, die nicht auf dem Gelände leben und arbeiten, aber sich in dem großen Apparat der Kinder- und Jugendhilfe auch um die Kinder kümmern und für sie Verantwortung tragen. Diese waren nicht immer leicht zu überzeugen, viele lehnten meine Anfrage zuerst grundsätzlich ab. Wir zeigten immer wieder unser Filmmaterial, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Erst kurz vor Fertigstellung des Films haben wir die letzte Genehmigung erhalten.
Ein wichtiger Punkt dafür war auch, dass ihr die Nachnamen der Eltern geändert habt und auch den Ort selbst nicht geografisch kenntlich macht.
Richtig, wir haben mit allen Parteien gemeinsam geschaut, wie wir den Film umsetzen können, ohne dass es für die Kinder oder für die Eltern später ein Problem werden könnte. Wir haben uns sehr bemüht, auf allen möglichen Ebenen eine Anonymisierung zu gewährleisten, indem viele Elemente wie der Name des Ortes aus Bildern entfernt und die Namen anonymisiert wurden. Wenn die Protagonist*innen in einigen Momenten nicht gefilmt werden wollten, haben wir das respektiert. Wir haben sie zudem bereits in einem sehr frühen Stadium mit in die Montage einbezogen. Die Kommunikation gestalteten wir transparent und auf Augenhöhe, wodurch die Beteiligten den Mut hatten zu sagen, falls ihnen etwas widerstrebte. So konnten die Erzieher*innen und Kinder mitbestimmen, was gefilmt wurde und ob es in den fertigen Film kommen sollte. Es war eine sehr schöne Zusammenarbeit.
Über welchen Zeitraum hinweg wart ihr am Haus am See und wie viele Tage davon habt ihr gedreht?
Von August 2022 bis August 2023 haben wir gedreht. Über das Jahr verteilt hatten wir 42 Drehtage. Aber davor war ich fünf Jahre allein immer wieder für Recherchen vor Ort. So habe ich den Kontakt gehalten und langsam entdeckt, was mein eigentlicher Fokus des Films werden sollte. Am Anfang war ich sehr auf die Kinder fokussiert und auf deren Geschichten und Biografien. Aber mit der Zeit und in der Zusammenarbeit mit meiner Produzentin Britta Strampe haben wir festgestellt, dass uns die Erwachsenen-Ebene – das ganze Auffangnetz von Menschen, die mit den Kindern arbeiten und täglich ihr Bestes geben trotz aller Herausforderungen und Hindernisse zum Trotz – interessiert. Das wollte ich gern zeigen.
Wie groß war euer Team vor Ort? Wie habt ihr es geschafft, so unsichtbar zu werden?
Meistens waren wir – der Kinematograf Johannes Praus, die Tonmeisterin Alexandra Praet und ich – vor Ort. Doch in manchen Situationen – z.B. der Szene, wo Niklas nach der Verhandlung in Frau Wagners Büro sitzt – waren sie auch ohne mich anwesend. Alle Protagonist*innen brachten mir großes Vertrauen entgegen, weil sie mich schon vorher lange kannten, was sich auf mein Team übertrug.
Die Balance in dem Film zwischen Humor, gefühlvollen Szenen und schwierigen Situationen ist großartig. Kann man so auch die Stimmung vor Ort beschreiben oder ist es auch ein wenig Schnittmagie?
Wir haben darauf geachtet, mit der Montage nicht zu verfremden. Die Erzieher*innen sind im Film wie sie sind, sprich bodenständig, mit trockenem Humor, liebevoll und wertschätzend. Natürlich haben wir mit der Montage (ca. 100 Stunden Material sind entstanden) eine Balance angestrebt, so dass nach einer schweren Szene erst einmal ein Landschaftsbild gezeigt wird, damit man durchatmen kann. Die Motive, welche Editorin Jana Dugnus und ich gewählt haben, kann man auch mit dem Inhalt des Films verknüpfen. So tauchen als Wirkungsbilder Kraniche auf, nachdem Niklas den Wunsch geäußert hat, zu seinen Eltern zurückzukehren. Durch die Wirkungsbilder bekommt auch der Fuchs, der von der WG auf den Namen Björn getauft wurde, und der dort jeden Abend herumschleicht, seinen Auftritt. Leider haben es die süßen Waschbär-Babys nicht in den Film geschafft.
Wir verfolgten einen ‚Positive Empowerment Approach‘ in der Gestaltung des Films und uns war es immer wichtig, dass der Film auch aufgrund der Schwere seines Themas leicht zugänglich ist. Man soll sich an die Hand genommen fühlen und es sollte kurzweilig und abwechslungsreich sein. Deswegen sind die leichten Szenen oder das Lachen zwischendurch so wichtig, sonst hätte der Film nicht funktioniert.
Kannst Du mir noch mehr über die Filmmusik erzählen?
Mit dem Komponisten Henning Fuchs habe ich bereits bei »Nach Wriezen« und »Autobahn« zusammengearbeitet. Wir kennen uns seit dem Filmstudium. Bei diesem Film hatten wir den Luxus, dass er schon in einem sehr frühen Stadium, im ersten Schnittprozess, einsteigen konnte. So konnte er mit dem direkten Feedback von mir und der Editorin Jana Dugnus viel ausprobieren. Für die Schlussszene – die Tanzparty – hat er ein eigenes Lied komponiert und selbst eingesungen, das einfach wunderbar passt und eine musikalische Klammer mit dem Anfang bildet.
Habt ihr euch den fertigen Film alle gemeinsam im Haus am See angeschaut?
Ja, das Screening lief im Wohnzimmer, ganz kuschelig mit Decken auf dem Sofa und ich hatte Popcorn mitgebracht, wie es sich für Kino gehört. Es war ganz toll! Eine Sache war überraschend: Da zwei Kinder quasi die Hauptrollen haben, kamen die anderen drei Kinder etwas weniger vor. Diese waren dann zuerst etwas traurig darüber und haben uns gefragt, ob wir jetzt noch einen zweiten Teil drehen können, wo sie mehr vorkommen. Wir hatten beim Filmen sogar vier Kinder intensiver beobachtet, mussten uns aber im Schnittprozess entscheiden, welche Geschichten wir erzählen wollten. So haben wir uns auf die drei Erzieher*innen und zwei Kinder konzentriert.
Welche Pläne habt ihr jenseits des Kinostarts mit dem Film?
Wir haben eine Impact-Kampagne geplant, um dem Berufsbild einen Push zu geben. So werden wir verschiedene Kooperationen mit z.B. Trägern aus der Kinder- und Jugendhilfe angehen und viele gemeinsame Veranstaltungen bundesweit mit dem Film auf die Beine stellen. Wir wollen Erzieher*innen damit unterstützen und neue Menschen für das Fach interessieren.
Wir wollen auch in die Schulklassen gehen. Das DOK Leipzig hat Bildungsmaterial erstellt – ein 30-seitiges PDF für Lehrer*innen mit Hintergrundinfos und Arbeitsblättern -, damit man direkt mit dem Film im Unterricht arbeiten kann. Auch streben wir Schulscreenings an. Wir streben viele Schulscreenings an und freuen uns schon auf die Schulkinowochen.
Wie reagieren junge Menschen bisher auf euren Film?
Wir hatten ein Screening in der Jugendstrafvollzugsanstalt Regis-Breitingen. Das war sehr berührend, da sich viele wiedererkannt haben, weil sie selbst eine Vergangenheit mit der Kinder- und Jugendhilfe haben. Dadurch kann ich auch verstehen, dass sie unseren Film für ihren Preis [Anm. d. Red.: Gedanken-Aufschluss-Preis] ausgewählt haben. Das war sehr berührend. Nach der Vorführung wollte der Jugendliche, der den Preis übergab, unsere Protagonistin Frau Wagner, die auch mit vor Ort war, umarmen – sie hat es natürlich zugelassen.
Kannst Du mir noch ein bisschen von Dir erzählen, wie du von Holland nach Deutschland und von der Grundschulpädagogik zum Film kamst?
Nach meiner Ausbildung zum Grundschulpädagogen habe ich Kulturwissenschaften angefangen und kam mit einem Erasmus-Stipendium nach Berlin. Dort habe ich ein Praktikum beim Offenen Kanal Berlin absolviert. Dadurch habe ich die Medienpädagogik kennengelernt, die perfekt meine Interessen verbindet. Ich habe dort meine ersten Dokumentarfilmchen mit Jugendlichen und Auszubildenden gedreht. Dafür bin ich viel durch die Ausbildungszentren in Brandenburg getingelt. Irgendwann war ich auch in Gefängnissen und habe dort medienpädagogische Workshops gegeben. Dort entstand auch meine Idee für »Nach Wriezen«. Parallel begann ich mein Regiestudium an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf.
Gibt es neben den Plänen für den Film bereits Ideen für ein Nachfolgeprojekt?
Ich habe erste Ideen, aber noch nichts Konkretes, was ich teilen kann. Ich brauche immer eine gewisse Zeit, um mich nach einem Film auf ein neues Thema einzulassen, vermute aber, dass auch der nächste Film im sozialen Bereich spielen und charakterbasiert sein wird. Jetzt freue ich mich erst einmal auf die Weihnachtsfeier in der Wohngruppe, wo wir auch dieses Jahr wieder eingeladen sind, und dann anschließend auf unseren Kinostart im Juni. Es wird eine große Kinotour durch Deutschland mit dem Film geplant, und ich freue mich auf ganz viele tolle Begegnungen mit dem Film!