Dirk Kuntze a.k.a. DJ D’dread vertont normalerweise Stummfilmklassiker live. Schon zur Dresdner Langen Nacht der Wissenschaften 2023 hat er Filme, die im Zuge des Landesprogramms zur Sicherung des audiovisuelles Erbes in Sachsen (SAVE) digitalisiert wurden, musikalisch bereichert. Während der Industriekulturtage in seiner Heimatstadt Leipzig widmete er sich nun frühen Werbefilmen aus der Süßwarenbranche. Wir haben ihn danach unter anderem gefragt, was er an found footage spannend findet – und ob er daraus gern selbst mal einen Film zusammenschneiden würde.
Du hast früher in Clubs aufgelegt, heute vertonst du live als DJ Stummfilme. Das sind ja doch zwei recht verschiedene Sachen – wie ist es dazu gekommen?
Der eine Impuls war das Theaterwissenschaftsstudium, da hatten wir ein Seminar, in dem es um Mensch und Maschine ging und um die Inszenierung von Masse. Dort haben wir Dsiga Wertows »Mann mit der Kamera« gesehen in einer Vertonung von Cinematic Orchestra, einer Londoner Band. Der andere Impuls kam vom damaligen Kulturreferenten vom StuRa in Leipzig, der mit mir zusammen studiert und mich schon öfter als DJ für Veranstaltungen gebucht hatte. Irgendwann lernte er jemanden kennen, der bei Stummfilmen auflegte und er fand das total cool und meinte, er könne sich das auch bei mir vorstellen. So kam es, dass ich mit diesem DJ und noch einem anderen gemeinsam aufgelegt habe: Jeder von uns hat einen Film vertont und dann noch alle drei ein und denselben Film, so dass man die unterschiedlichen Handschriften sehen konnte. Zu diesem ersten Auftritt in der Schaubühne Lindenfels vor 13 oder 14 Jahren hatte ich auch eine meiner Professorinnen eingeladen und die fand das super. Ein paar Monate später hat sie mich dann für das Goethe-Institut und das Auswärtige Amt nach Kiew gebucht, auf ein Filmfestival, zur Repräsentation des deutschen Stummfilms. Tja und da dachte ich dann »Okay, damit kannst du auf jeden Fall durchstarten!« Dabei ist natürlich auch die Konkurrenz viel kleiner, es gibt in Leipzig bestimmt 150 gute DJs, aber DJs, die Stummfilme vertonen, gibt es vielleicht drei.
Du hast vor allem Meilensteine des Stummfilms oder der Filmgeschichte überhaupt, wie »Der Mann mit der Kamera« oder »Menschen am Sonntag«, vertont. Das ist ja eine ganz andere Baustelle als die Arbeit mit Amateurmaterial oder semiprofessionellem Material, wie wir es jetzt gerade gesehen haben. Was reizt dich an diesem?
Das ist eine ziemliche Herausforderung, weil du keine dramaturgische Linie hast und keinen klassischen Aufbau des Films, der einen guten Rahmen abgäbe. Deshalb schaue ich stattdessen, was für ein Gefühl da drinsteckt oder welche Situation welche musikalischen Assoziationen weckt. Das finde ich total interessant, weil es mich aus diesem mittlerweile seit vielen Jahren erprobten Gerüst so ein bisschen rausholt. Es hat auch nicht diese großen Gesten und diese Emotionalität, sondern es sind die Kleinigkeiten, mit denen du arbeiten musst, aber auch kannst. Bei der diesjährigen Langen Nacht der Wissenschaften in der SLUB und auch heute haben wir relativ viele, aber relativ kurze Sachen gesehen. Das ist was anderes als Werke mit eineinhalb bis über drei Stunden, wo du einen echt weiten Bogen spannst und Themen etablierst, die du immer mal wieder aufgreifst. Bei Amateurmaterial, das aus vielen einzelnen Stücken von nur drei Minuten und noch mehr filmischen Sequenzen besteht, ist deshalb auch das Auflegen ein anderes. Dann geht es eher so ein bisschen hin zu diesem Club-Feeling. Ich versuche in der einzelnen Sequenz den Moment, das Gefühl, den gezeigten Alltag, einzufangen und den irgendwie musikalisch widerzuspiegeln und nicht den Zuschauer oder die Zuschauerin durch eine große Dramaturgie zu begleiten. Hier kann ich etwas mehr spielen und eher einen Kommentar setzen.
Das Material aus der Langen Nacht der Wissenschaften, das sehr viel Familienleben umfasste, war ja nun noch mal amateurmäßiger und hatte zum Teil noch mal weniger Spannungsbogen als das, was wir gerade gesehen haben. Kannst du dir vorstellen, gerade als studierter Theaterwissenschaftler, nicht nur die Musik zum Film zu bauen, sondern einen Film selbst aus found-footage-Material aus dem SAVE-Programm zusammenzuschneiden und dann zu vertonen?
Ja, das wäre auf jeden Fall sehr interessant! Cool, da bin ich noch gar nicht draufgekommen. Ich mag Filmschnitt sehr, durch das Studium ist auch ein gewisses Wissen vorhanden und gerade beim Stummfilm liegt so was wie Sergej Eisensteins Montage der Attraktionen ja auf der Hand. Wobei dieses Vorgehen vielleicht eine Komponente rausnimmt, nämlich die Spontaneität, das Pingpong zwischen visuellem Eindruck und musikalischem Ausdruck. Als DJ orientierst du dich sonst an deinem Publikum, fokussierst dich auf einige Leute mehr als auf andere und reagierst auf sie. So ist es auch bei der Live-Vertonung, du schaust, was der Regisseur sagen will, was du dir rausspicken kannst, um dann musikalisch was dazuzugeben. Wenn ich selbst den Schnitt mache, kenne ich ja schon die Brüche, die Linie oder den Ausdruck, der vielleicht erzielt werden soll und dann hätte die Musik vielleicht keine eigenständige Konnotation? Man müsste es ausprobieren, ich fände das total interessant, auf jeden Fall!
Wie ist es überhaupt zu der Zusammenarbeit mit der SLUB und mit dem Projekt »SAVE« gekommen?
Ich habe früher selbst für die SLUB als Toningenieur gearbeitet und für das Archiv der Stimmen Schellack-Aufnahmen digitalisiert. In der Zeit war ich auch sehr viel unterwegs mit Stummfilmen und mein Referatsleiter ist dadurch aufmerksam geworden, fand es total gut und hat geschaut, wo es im SLUB-Kalender Termine gibt, in die man mich einbinden könnte. Ich habe dann das Set von »Menschen am Sonntag«, mit dem ich damals in der Schaubühne gestartet bin, angepasst und ein paar von den Schellack-Aufnahmen, die ich selbst digitalisiert hatte, mit reingepackt – weil es natürlich wunderbar gepasst hat, weil es eine ähnliche Zeit war und dadurch eine Verbindung geschaffen wurde.
Dann gab es später gemeinsam mit den Technischen Sammlungen noch eine Veranstaltungsreihe mit frühen Filmen aus Dresden, so hat sich das weitergesponnen und man hatte mich irgendwie auf dem Schirm. Wenn sie jetzt einen Stummfilm haben und Musik dazu brauchen, dann wissen sie: Da sitzt jemand in Leipzig, der macht das gerne und gut. Gerade wenn das Zielpublikum ein bisschen jünger ist, dann ist es natürlich auch nicht schlecht, wenn eine Live-Vertonung mal nicht mit klassischen Instrumenten stattfindet, sondern mit einem DJ.
Der »SAVE«-Bestand ist ja thematisch sehr breit gefächert ist. Gibt es da irgendetwas, womit du dich noch mal stärker beschäftigen würdest?
Dazu kann ich ehrlich gesagt noch nicht so viel sagen. Ich habe das Programm jetzt erst durch die Lange Nacht der Wissenschaften kennengelernt und fand es bemerkenswert. Ich werde auf jeden Fall durch das Material stöbern, weil es ein echter Schatz und found footage für mich wahnsinnig interessant ist. Ich fand zum Beispiel den sorbischen Bestand super spannend. Das zu sehen, die Kleidung oder diese sehr ritualisierte Hochzeit, das fand ich auch aus kulturwissenschaftlicher Sicht reizvoll. Das hatte auf jeden Fall was, das waren starke Bilder, die schon so viel Geschichte erzählen!
Das Interview führte André Hennig.